Warum der Boogie Woogie ewig leben wird
Von Christian Christl
Der Boogie Woogie erlebt in den letzten Jahrzehnten weltweit eine Renaissaince. Und zwar in doppelter Hinsicht. Einerseits der Tanz „Boogie Woogie“. Hunderte von Tanzclubs und -schulen begeistern tausende von Menschen, sich zum fetzigen Rhythmus zu bewegen. Tanzwettbewerbe gibt es weltweit. Von Amerika bis Europa, von Asien bis Australien.
Und andererseits der Klavierstil. Pianisten wie Axel Zwingenberger, Jools Holland oder auch Jean-Pierre Bertrand gelten als grandiose Meister an den achtundachtzig Tasten. Und begeistern bei ihren Konzerten und TV-Shows ein Millionpublikum. In diesem Sog fühlen sich jüngere Generationen von Pianisten motiviert. Und haben in Ermangelung von Bekanntheitsgrad und Konzertagenten eigene Boogie-Festivals in ihren Heimatstädten ins Leben gerufen, laden andere „unbekannte“ Kollegen zum Spielen ein und haben sich so ein weltweites Netzwerk an lokalen Boogie-Konzerten erschaffen.
Woher aber kommt die Faszination? Sowohl für Tänzer als auch für Pianisten? Und natürlich auch für ein immer größer werdendes Publikum?
„Alles begann mit einem Rhythmus auf der Trommel in Afrika“, sagte einmal Willie Dixon, der als „Vater des Blues“ in die Geschichte einging. Und tatsächlich finden sich phonetische Gleichklänge in verschiedenen afrikanischen Sprachen. „Boog“ zum Beispiel, das vom Stamm der Hausa genutzt wurde um den Schlag der Trommel zu beschreiben. Die Mandingo gebrauchten das Wort „Booga“ für die gleiche Bedeutung. In West Afrika existiert das Wort „Bogi“, das soviel bedeutet wie „tanzen“. Die Bantu hatten den Begriff „Mbuki Mvuki“ und drückten damit aus, wild zu tanzen, bis die Kleider vom Leib fallen.
Weit vor 1928 wurde der Begriff „Boogie Woogie“ schon verwendet
In der „modernen“ Musik findet sich das Wort „Boogie“ schon ganz früh. Im Archiv des Library of Congress wird z.B. ein Song aus dem Jahr 1901 erwähnt, der „Hoogie Boogie“. 1880 wurde ein Song veröffentlicht mit dem Titel „The Boogie Man“. Auch Edison hat bei den ersten „Blue-Cylinder“ Aufnahmen mit dem American Quartett den „That Syncopated Boogie Boo“ 1913 veröffentlicht. 1917 nahm Wilbur Sweatman den „Boogie Rag“ auf. Interessant aber ist, dass keine dieser Aufnahmen auch nur annähernd musikalische Elemente des Boogie Woogie aufweist, wie wir ihn heute kennen.
George W. Thomas komponierte 1916 den „New Orleans Hop Scop Blues“ und verkaufte die Noten auf der Straße um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In diesem Song finden sich erste Bassläufe, die später im Boogie Woogie verwendet wurden. Der Song wurde 1923 zum ersten Mal auf Platte aufgenommen. Ebenfalls von George W. Thomas und seinem Bruder Hersal Thomas stammen die Kompositionen „The Fives“ und „Suitcase Blues“. Auch hier ist der spätere Boogie Woogie deutlich hörbar.
Die Louisiana Five nahmen 1919 den „Weary Blues“ auf. Mit Bassfiguren, die wir heute mit dem Boogie Woogie asoziieren. Die Aufnahmen des „Weary Blues“ gelten unter Historikern als die ersten, in denen Boogie-Elemente auf Platte gepresst wurden.
Die Blues-Gitarristen spielten den Boogie noch vor den Pianisten
Der Gitarrist Blind Lemon Jefferson gebrauchte den Ausdruck „Booga Rooga“ um eine ganz bestimmte Bassfigur, die er spielte, zu beschreiben. Zu hören in seinem Song „Matchbox Blues“. Man erzählt sich, er hätte diese Art Gitarre zu spielen vom legendären Leadbelly übernommen, der zwar aus Louisiana stammte, aber erzählte, Pianisten aus Harrison County in Texas würden so spielen. Das war so um 1899. Und Leadbelly übernahm das, was die Pianisten spielten, auf der Gitarre. Er erwähnte auch den Namen Dave Alexander.
Seither pilgern Boogie Piano Fans immer wieder nach Harrison County, weil dort das Boogie Piano erfunden worden sein soll. Der Pianist Jelly Roll Morton aus New Orleans, der ja eher im ganz frühen Jazzpiano zu Hause war, bestätigte in Interviews, dass dort die Wurzeln des Boogie Piano liegen würden.
Die Journalisten und Buchautoren Max Harrison und Mack McCormick (Treasury of Field Recordings, Vol. 2) bestätigten, das der Begriff „Fast Western“ in Marshall und Harrison County in Texas für den Musikstil verwendet wurde, den wir heute als Boogie Woogie kennen. Im Gegensatz zum „Slow Blues“ aus New Orleans oder auch St. Louis nannten die Leute die rhythmische und tanzbare Variante des Blues also „Fast Western“, weil er schneller war und aus Texas kam. Es gab hunderte Abwandlungen des Namens. Meist dann, wenn ein Musiker einfach seinen Namen davor setzte, oder den Ort, von dem er kam.
Clarence Pinetop Smith und sein „Boogie Woogie“ 1928
Gerade mal 25 Jahre alt nahm ein junger Pianist aus Alabama in Chicago eine Platte auf, in der er einen „Fast Western“ geprägten Song einspielte. Clarence „Pinetop“ Smith. Und er nannte ihn „Boogie Woogie“. Smith hatte schon in jungen Jahren Erfahrung als Pianist gesammelt und reiste samt Familie nach Norden. In Chicago traf er auf eine lebhafte Szene in den 1920er Jahren. Es gab Clubs und House Rent Parties. Und viele Plattenfirmen waren dort auf der Suche nach neuen Talenten, die sie aufnehmen konnten um möglichst viele Platten zu verkaufen. Pinetop Smith, so erzählt man sich, war Gast auf den legendären Parties im Haus eines Pianisten namens Jimmy Yancey. Dort traf er andere junge Pianisten, die ebenfalls von den rollenden Bassfiguren und den stampfenden Akkorden dieses „neuen“ Klavierstils begeistert waren: Albert Ammons und Meade Lux Lewis.
Auf einer dieser House Rent Parties wurde Smith von einem Plattenproduzenten der Firma Vocalion angesprochen und zu Aufnahmen eingeladen. Die Session fand am 29. Dezember 1928 statt und Pinetop nahm da seinen legendären „Pinetop`s Boogie Woogie“ auf. Zunächst war die Plattenfirma nicht begeistert, denn Pinetop Smith erklärte in einer Art Sprechgesang, wie die Leute zu seinem Song tanzen sollten. Die Textzeilen waren jedoch so zweideutig, dass es Zweifel gab, ob sich ein solch unanständiger Song verkaufen würde. Letztendlich entschieden die Plattenmanager aber, sie würden es versuchen. Er sollte noch weitere Aufnahmen machen. Doch dazu kam es nicht mehr. Am 15. März 1929 traf ihn eine Kugel bei einer Kneipenschießerei, die ihm gar nicht gegolten hatte.
Das Vermächtnis des „Pinetop`s Boogie Woogie“
Der Klavierstil des „Fast Western“, den Pinetop Smith als „Boogie Woogie“ benannt hatte, blieb erhalten, weil Ende der 1920er Jahre junge Pianisten die rollenden Bässe und tanzbaren Akkorde verfeinerten und zur Perfektion führten. Allen voran Albert Ammons und Meade Lux Lewis aus Chicago. Aber auch Pete Johnson aus Kansas City. Sie sollten später als „The Boogie Boys“ oder „The Big Three“ Geschichte schreiben.
Die Hymne aller Boogie Pianisten: Der Honky Tonk Train Blues
Albert Ammons und Meade Lux Lewis waren von Kindheit an befreundet, teilten sich zeitweise auch ein Appartment und waren unzertrennlich. Meade Lux Lewis bekam sogar 1927 das Angebot für die damals junge Plattenfirma Paramount Aufnahmen zu machen. Das Stück, dass er einspielte, nannte er „Honky Tonk Train Blues“. Rein musikalisch betrachtet hat der Song alles, was Boogie Woogie Piano ausmacht. Nur den Namen nicht.
Die Single verkaufte sich aber nicht. Aber unter Jazzfreunden kursierte sie als Geheimtipp. Ein junger Journalist aus New York namens John Hammond bekam ein Exemplar in die Hände und war begeistert. Er machte sich auf die Suche nach Meade Lux Lewis um ihn zu einem Konzert einzuladen, dass er akribisch vorbereitete: From Spirituals To Swing in der Carnegie Hall in New York. Bei der Suche nach Meade Lux Lewis traf John Hammond auch auf Albert Ammons und war begeistert von seinem Klavierspiel. Auch ihn buchte er für das Konzert in New York.
From Spirituals To Swing Carnegie Hall New York
Es dauerte Jahre, bis John Hammond seinen Traum vom „From Spirituals To Swing Concert“ verwirklichen konnte. Im Dezember 1938 war es soweit. Bei der Premiere dabei: Meade Lux Lewis und Albert Ammons. Ebenfalls mit auf der Bühne standen der Sänger Big Joe Turner und der Pianist Pete Johnson, beide aus Kansas City. John Hammond hatte die beiden auf Tipp eines befreundeten Journalisten in einem Club in Kansas City ausfindig gemacht. Er war begeistert und engagierte Johnson und Turner auch für sein Konzert in der Carnegie Hall.
Headliner waren Count Basie und Benny Goodman, aber auch der Stride-Pianist James P. Johnson war im Programm, genauso wie der Blues Gitarrist Big Bill Broonzy und die damals populäre Jazzsängerin Helen Humes.
Es war ein Mammutprogramm, dass über mehrere Stunden ging. Am Tag vor dem Konzert hatte Hammond nochmal zusätzlich 200 Tickets verkauft. Da die Carnegie Hall aber bereits komplett besetzt war, bauten sie kurzerhand eine kleine Tribüne auf der Bühne auf, um die Leute unter zu bringen.
Jazz war zu dieser Zeit die populäre Musik in Amerika. Vorallem der tanzbare Swing. Die Superstars waren Benny Goodman und auch Count Basie. Die New Yorker kannten auch James P. Johnson. Aber Ammons, Lewis, Johnson und Turner und wurden nur als „Boogie Boys“ angekündigt. Niemand konnte sich vorstellen, was damit wohl gemeint sei.
Ein Konzertflügel und ein altes Klavier
Für die „Boogie Boys“ stand ein Konzertflügel und ein altes Klavier auf der Bühne. Ihr Zeitrahmen im Konzert beschränkte sich auf wohl nur 6 Songs. Und den nutzten sie. Denn als die vier auf die Bühne kamen entfachten sie mit einfachsten musikalischen Mitteln ein Feuerwerk, dass New York noch nicht erlebt hatte. Boogie Woogie Piano in seiner reinsten Form, nur Klavier und ein Sänger.
Natürlich spielte jeder der Pianisten kurz solo, aber auch Duette und Trios. Und dazu der rurale Gesang von Big Joe Turner. So wurde über Nacht bekannt, was wir heute als „Klassisches Boogie Piano“ bezeichnen. Gemeinsam an mehreren Klavieren geht übrigens am besten, einfachsten und wirkungsvollsten eben im „Klassischen Boogie Woogie“. Die Freiräume für Tempo, Groove und Improvisation sind weiter gefasst als bei Stücken mit fester Melodie oder mehr Harmonien als im Blues-Schema.
Die Presse jedenfalls feierte im Anschluß an das Konzert zwar alle Künstler – und den Impressario John Hammond. Die „Boogie Boys“ aber waren die Überraschung. Und wurden über Nacht in New York populär.
Cafe Society – der falsche Platz für die rechten Leute
John Hammond war gut befreundet mit einem ehemaligen Schuhmacher namens Barney Josephson. Beide liebten Jazz. Fachsimpelten nächtelang, besuchten Auftritte und erfreuten sich an ihrer gemeinsamen Leidenschaft. Im Gegensatz zu Hammond hatte Barney Josephson kein Geld. Dafür aber Ideen.
Am Sheridan Square im New Yorker Künstlerviertel Greenwich Village wurde Josephson ein Kellercafe angeboten. Sofort hatte er die Idee, dort einen Live-Musik-Club zu eröffnen, in dem sowohl schwarze als auch weiße Musiker auftreten sollten. Aber eben auch ein schwarzes und weißes Publikum zugelassen war. Die Rassengesetze in den USA verboten dies in vielen Staaten. New York aber war ein wenig liberaler und weltoffener.
Eine Journalistin regte auch an, den neuen Club „Cafe Society“ zu nennen. Sie schrieb eine Kolumne gleichen Titels, in dem sie die versnobte New Yorker Elite auf`s Korn nahm. Sie war es auch, die den Slogan mitlieferte: The wrong place for the right people“ – also der falsche Platz für die rechten Leute. Das Wortspiel war eindeutig: Wer politisch „rechts“ und nicht liberal eingestellt war, sollte besser gleich zu Hause bleiben.
Bedeutende Künstler der damaligen Zeit gestalteten die Wände mit politisch eindeutigen Murials, also Wandgemälden. Immerhin hatte 1939 in Europa der zweite Weltkrieg gerade begonnen. Da boten sich viele politische Themen an, die auch bildlich dargestellt wurden.
Hammond war im Cafe Society so etwas, wie der inoffizielle musikalische Leiter. Barney Josephson war der Chef und Inhaber. Eine gute Kombination, denn im Cafe Society sollten in den nächsten Jahren die besten Musiker aus Jazz, Blues – und natürlich Boogie Woogie auftreten.
The Boogie Boys: Albert Ammons – Meade Lux Lewis – Pete Johnson – Big Joe Turner
Nach dem großen Erfolg der „Boogie Boys“ beim Carnegie Hall Konzert empfahl Hammond seinem Freund Josephson, Albert Ammons und Meade Lux Lewis für ein paar Wochen fest zu engagieren. Sie sollten jeden Abend auftreten. Für Pete Johnson hatte Hammond bereits einen Vertrag in einem anderen Nachtclub ausgehandelt. Er bearbeitete Josephson aber derart, auch Johnson zu engagieren, dass Hammond Johnson`s Vertrag wieder löste und ihn im Cafe Society unterbrachte. Und weil das nicht genug war, überzeugte er Josephson auch davon, den Sänger Joe Turner unter Vertrag zu nehmen.
Die Engagement-Verträge, und das ist in der heutigen Zeit kaum noch vorstellbar, liefen über mehrere Wochen. Die Künstler traten jeden Abend auf. Und die Leute kamen in Scharen. So wurden die „Boogie Boys“ Albert Ammons, Meade Lux Lewis, Pete Johnson und Big Joe Turner von heute auf morgen „New Yorker“ und kehrten teils erst Jahre später wieder in ihre Heimatstädte zurück.
Hollywood wird auf den Boogie Woogie aufmerksam
1944 – der Boogie Woogie hatte ich sich längst zur populären Musik in Amerika gemausert, entschieden Produzenten in Hollywood, auf diesen erfolgreichen Zug aufzuspringen. Natürlich mit aller Vorsicht, denn in Hollywood ging es auch damals nicht darum, den Boogie Woogie als Musikform zu präsentieren, sondern es ging einzig darum etwas zu produzieren was Geld bringt, was sich verkaufen lässt.
Kurzerhand hatten sie sich deshalb für ein kleines Drehbuch des Autors Karl Farkas entschieden. Es ging um Putzpersonal in einem Jazzclub, die nach einem langen Abend mit Blaumann und Eimern bewaffnet, sauber machen. Einer der Protagonisten setzt sich ans Klavier und beginnt zu spielen. Dann beginnt der Traum: Denn plötzlich sitzen alle Schauspieler elegant gekleidet vor einem großen Publikum. Der „Boogie Woogie Dream“ halt.
Als Regisseur wurde Hans Burger engagiert, ein Emigrant mit tschechisch-österreichischen Wurzeln. Er muss es wohl auch gewesen sein, der Albert Ammons und Pete Johnson als Schauspieler vorschlug. Darüber hinaus wurde Teddy Wilson und sein Orchester gebucht. Sie waren gerade ebenfalls recht populär und präsentierten eine junge, damals noch unbekannte Sängerin: Lena Horne.
Der Film selbst wurde rund 15 Minuten lang. Und hält sich bis heute in Sammlerkreisen als wahres Schmuckstück und Sammlerobjekt.
Das Ende einer Ära läutet die Zeit der modernen populären Musik ein
In den 1950er Jahren begann auf den Plattentellern der Radiosender ein neues Zeitalter. Von jeher wollten Plattenfirmen nur Künstler und Songs aufnehmen, die sich „verkaufen“ lassen. Nach wie vor waren hunderte von sogenannten „Talent Scouts“ überall in Amerika unterwegs, um verkaufbare Künstler ausfindig zu machen. Schwarze Musiker konnten aber nur einem schwarzen Publikum schmackhaft gemacht werden. Weiße Künstler nur einem weißem. Bis Elvis Presley kam. Er funktionierte in der schwarzen und in der weißen Käuferschicht. Aber auch bei ihm dauerte es noch viele Jahre, bis er sich amerikaweit mit seinem „Rock`n Roll“ durchsetzen konnte.
Big Joe Turner hatte in den 1950er Jahren einige Hits für Atlantic Records in New York. Von einem Journalisten befragt, worin der Unterschied seiner Musik zu den Songs aus den 1930er Jahren liegen würde, antwortete er: „Damals nannten sie es Boogie Woogie. Heute nennen sie Rock`n Roll“.
Parallel zum Rock`n Roll entwickelte sich aber auch der elektrische Chicago Blues rund um Willie Dixon und Muddy Waters zur Hitmusik, die in den Radiosendern rauf und runter gespielt wurde.
Während sich in den 1960er Jahren der Rock`n Roll auch immer lauter und elektrischer zum „Rock“ entwickelte, entstanden „Revivals“ in Amerika, die auch den akkustischen Blues aus den ländlichen Gegenden einem neuen, jungen Publikum näher brachten. Und hier fand sich plötzlich der Boogie Woogie wieder. Pianisten, die eine Mischung aus Blues und Barrelhouse spielten, wurden einer wieder einmal verblüfften Öffentlichkeit als Boogie Pianisten präsentiert. Darunter waren unter anderem Roosevelt Sykes, Robert Shaw oder auch Memphis Slim.
Boogie Woogie in Europa nach dem zweiten Weltkrieg
Irgendwie hatten es Boogie Woogie Schellacks von Albert Ammons, Pete Johnson und Meade Lux Lewis während des zweiten Weltkrieges über den großen Teich geschafft. Und landeten zum Beispiel bei Leopold von Knobelsdorff, der in Köln beim WDR als Tontechniker arbeitete. Sie landeten aber auch bei Hans Maitner in Wien, der beim ORF Radiosendungen moderierte. Gespielt wurden die Platten bei AFN, dem American Forces Network. Der Radiosender war europaweit zu hören und bot beste Musik aus amerikanischen Landen. Und eben auch Boogie Woogie Piano.
Leopold von Knobelsdorff begann den Boogie Woogie selbst am Klavier zu spielen. Und fand bald erste Mitstreiter, die sich ebenfalls an den 88 Tasten versuchten. Das war in den 1960er Jahren. Maitner in Wien begann zur selben Zeit Blues- und Boogie Woogie Platten zu sammeln. Anfang der 1970er Jahre startete er auf dem ORF seine Radiosendung „Living Blues“. Die Resonanz in Österreich war so groß, dass er zur besten Sendezeit vor das Mikro gehen konnte.
Leopold von Knobelsdorff und Hans Maitner inspirierten junge Leute, die vom Boogie Woogie ganz begeistert waren. Hans-Georg Möller in Hamburg zum Beispiel in Hamburg. Oder auch Martin Pyrker in Wien. Möller wiederum traf zwei junge Burschen, die ebenfalls gerade erst in Berührung mit Piano Blues und Boogie Woogie gekommen waren: Axel Zwingenberger und Vince Weber. Zwingenberger, der von der Klassik kam, war eher vom Pianospiel von Albert Ammons begeistert, während Weber, dessen Schwester ihm Bluesplatten vorgespielt hatte, eher dem bluesigen Boogie Piano zugeneigt war. Hans-Georg Möller jedenfalls nahm die zwei Jung-Spunte unter seine Fittiche und brachte sie mit Leopold von Knobelsdorff, und auch mit Hans Maitner in Kontakt. Geboren war eine Boogie Woogie Achse, die von Hamburg über Köln bis nach Wien reichte.
1974 – Die Piano Boogie Woogie Revolution in Europa beginnt
Leopold von Knobelsdorff hatte es irgendwie geschafft, die Verantwortlichen beim WDR in Köln zu einem Piano Blues und Boogie Woogie Konzert zu überreden. Natürlich spielten auch Hans-Georg Möller, Axel Zwingenberger und Vince Weber. Martin Pyrker aus Wien war ebenfalls eingeladen. Alle spielten dort zum ersten Mal vor großer Kulisse.
Vince Weber traf zu dieser Zeit auf den Komiker Otto Waalkes, der ihn für seine Deutschland-Tournee als Vorprogramm engagierte. Innerhalb kürzester Zeit war Vince Weber von allen jungen Blues- und Boogie Pianisten der bekannteste.
1976 folgte dann ein weiterer Ritterschlag für die jungen Pianisten. Im Anschluß an ein Konzert im Wiener Konzerthaus organisierte das ORF-Fernsehen in seiner Sendung „Spotlight“ ein Boogie Woogie Special. Mit Hans-Georg Möller, Axel Zwingenberger und Martin Pyrker an den Tasten. Zwingenberger`s jüngerer Bruder Torsten bediente das Schlagzeug. Diese Fernsehsendung und eine LP aus dem Wiener Konzerthaus begründeten den weiteren Weg des Boogie Woogie Piano in Europa.
Aus der Kneipe in den Konzertsaal
Innerhalb kürzester Zeit erreichten Axel Zwingenberger und Vince Weber in Deutschland, aber auch Martin Pyrker in Österreich, dass Boogie Woogie Konzerte auf den Bühnen in Jazz-Clubs, in Jazz-Vereinen und bei Jazzfestivals angeboten wurde. Ganz nebenbei begeisterten die Pianisten eine neue Generation an jungen Menschen. Viele von ihnen verschrieben sich der Klaviermusik aus den frühen 1920er und 1930er Jahren. Einige sind heute noch als Berufsmusiker unterwegs, so z.B. Christian Willisohn, Frank Muschalle, Henning Pertiet oder auch Joja Wendt. In Frankreich waren es Jean-Paul Amouroux und Jean-Pierre Bertrand. In England Jools Holland. Und in Amerika trug Bob Seeley dazu bei, dass sich jüngere Generationen von Pianisten für den Boogie Woogie begeistern konnten, so z.B. Ricky Nye, Carl Sonny Leyland und viele andere.
Axel Zwingenberger aber hob das Niveau ein weiteres mal an. Zunächst begann er in den 1980er Jahren eine Serie von Aufnahmen unter dem Titel „The Friends of Boogie Woogie“. Mit damals noch lebenden Künstlern der originalen Generation nahm er Platten auf, und mit einigen spielte er ausgedehnte Tourneen. Durch die Zusammenarbeit mit Lionel Hampton, Big Joe Turner oder auch Sippie Wallace avancierte Zwingenberger zum absoluten Boogie Woogie Star auf deutschen, aber auch auf europäischen Bühnen. Er ging aber in den 1990er Jahren noch einen Schritt weiter. Und der bedeutete für einen Pianisten, der von seiner Musik lebt, einen großen Einschnitt. Gemeinsam mit einer Agentur spielte er fortan erstmal nur noch in klassischen Theatern und auf großen Festivals. Keine Jazzclubs, keine kleinen Konzerte mehr. Die Eintrittspreise waren im Verhältnis zu anderen Boogie-Konzerten höher. Der Zuschauerzuspruch aber auch. Wieder einmal gelang es Axel Zwingenberger, den puren Piano Boogie Woogie in seiner Urform, auf das Niveau der Carnegie Hall Konzerte von Ammons, Lewis, Johnson zu heben.
Richtiges Boogie Piano klingt nur auf einem alten Klavier gut
Diese Mär hält sich hartnäckig. Sie wird meist von Leuten weiter verbreitet, die selbst gar nicht oder nur ein klein wenig Klavier spielen. Besitzer von Jazzclubs mit fragwürdig restaurierten und instandgehaltenen Klavieren nutzen dies gerne als Vorwand, bei einem Boogie Konzert das Klavier nicht stimmen lassen zu müssen. Als Argument wird immer wieder herangeführt, dass in den 1930er Jahren der Boogie ja auch auf alten Klavieren gespielt wurde.
Richtig hingegen ist, dass die heute „alten“ Klaviere damals „jung“ waren. Je nach Sorgsamkeit des Besitzers wurden sie gestimmt und gewartet. Nur war damals die Aufnahmequalität noch nicht ausgereift. Deshalb klingen viele Aufnahmen schräger als sie es vielleicht tatsächlich waren.
Fakt ist, den guten Klang eines Klavieres kann nichts ersetzen. Auch kein Digital-Klavier. Als die in Mode kamen, sprangen viele Veranstalter und Künstler sofort darauf an. Die Werbung versprach: Keine Wartung. Keine Stimmung. Immer spielbereit. Heute weiß man es besser. Der Klang kommt bei guten Digital-Klavieren mit Anschlag-Dynamik vielleicht zu 50% an ein gutes Klavier heran. Mehr aber auch nicht. Verständnis kann man für Ton- und Soundleute haben, die ein Konzert beschallen müssen. Ein akkustisches Klavier oder einen Flügel „abzunehmen“ ist schwierig und bedarf viel Erfahrung und guter Mikrofonie. Bei einem Digital-Klavier braucht man nur den Stecker einzustecken, laut und leise, Bass oder Höhen regulieren.
Auch viele Künstler greifen bis heute auf Digital-Klaviere für ihre Auftritte zurück. Das sind meist die „schlechtbezahlten“ Gigs, bei denen der Veranstalter den Musikern das Messer auf die Brust setzt: „Entweder ihr bringt alles mit oder jemand anders spielt den Gig“. So wurden viele Pianisten unfreiwillig zu Digital-Klavier-Transporteuren, schafften sich entsprechende Fahrzeuge an, um ihre Instrumente transportieren zu können. All das nur, um schlechtbezahlte Auftritte spielen zu können.
Das Klangerlebnis eines guten, akkustischen Klavieres oder Flügels aber wird kein digitales Instrument je erreichen.
Neue Pianisten-Generationen auf dem Vormarsch
Was Zwingenberger aber auch – ganz nebenbei – auslöste, war eine Motivationswelle für eine noch jüngere Generation an Pianisten. Ob in Österreich, der Schweiz, in Frankreich, Spanien oder England, Anfang der 2000er Jahre schoßen Boogie Pianisten wie Pilze aus dem Boden. Auftrittsorte waren aber nach und nach rar gesät. Viele Jazzclubs und -Vereine wurden und werden ehrenamtlich geführt und fanden keine Nachfolger. Kulturämter hatten nicht mehr die Budgets zur Verfügung, um auch unbekannten Künstlern Auftrittsmöglichkeiten bieten zu können. Ähnliches bei Festivals. Meist ehrenamtlich organisiert müssen sich große und kleine Events aus Eintrittstickets und zurück gehenden Sponsoring-Einnahmen finanzieren.
So erfand die jüngste Generation an Pianisten ein Netzwerk an eigen organisierten Boogie Festivals. In Ermangelung an Auftrittsorten luden sie sich gegenseitig ein und zelebrierten den Boogie Woogie. Mal nur für einen Abend. In manchen Fällen sogar zwei oder drei Abende hintereinander. Meist mit zwei Flügeln auf der Bühne, es werden Tänzer eingeladen und eine Rhythmus-Gruppe mit Bass und Schlagzeug. Jeder Pianist bedient einen Spot von rund 20 Minuten und am Ende des Abends jammen alle kurz miteinander.
Dieses Konzept war so erfolgreich, dass bis kurz vor Covid europaweit rund vier dutzend solcher von Pianisten organisierten Klavier-Festivals zu zählen waren. Pro Jahr. Im Jahr 2019 waren nach Schätzungen für Piano Boogie Konzerte rund 100.000 Tickets verkauft worden. Und das nur in Deutschland.
Boogie Piano in TV und Fernsehen
Ja, da sieht es dünn aus. In den guten, alten Zeiten des Fernsehens der 1970er und 1980er Jahre, als es nur in Deutschland nur drei Programme gab und Samstag-Abend Shows Straßenfeger waren, gab es wohl mehr Präsenz im TV als heute. Shows wie die von Rudi Carrell, Peter Frankenfeld oder Wim Thoelke boten immer Live-Musik. Und eben auch Boogie Piano. Als dann in den 1990er Jahren die Sendeplätze für Privat-Sender geöffnet wurden, war die Hoffnung bei vielen groß, es würde jetzt auch Sendeplätze für Nischen-Musik wie den Boogie Woogie geben. Falsch gedacht. Privatsender sind noch mehr als die öffentlich-rechtlichen in Deutschland auf „Quote“ angewiesen, um Werbezeiten verkaufen zu können. Insofern starben mit den Jahren auch Live-Musik-Sendungen der meisten Changres. Bis auf Volkmusik und Mallorca-Parties ist heute kaum noch handgemachte Musik im Fernsehen vertreten. Auch nicht im Radio, obwohl sich viele Radiosender mit speziellen Ablegern (Antenne = Rock Antenne), Klassik Radio, Bayr. Rundfunk – Klassik) für ein Nischen-Publikum öffnen.
Die Situation im Online-Radio ist da vielfältiger. Hier findet der geneigte Zuhörer genau das, was er hören will. Wenn er denn in der Suche erfolgreich ist und die Technik beim jeweiligen Sender auch funktioniert. Mal abgesehen davon, dass das Hör-Erlebnis Radio meist im Auto und unterwegs stattfindet. Sich da einzuarbeiten, wie man im Autoradio den passenden Online-Sender einstellen kann, ist übrigens eine Wissenschaft für sich.
Ausblick in die Zukunft
Der Piano Boogie wird immer seine Nische finden. Egal, wie die Situation auch sein mag, egal welche Musik gerade populär ist. Denn wer sich für eine absolut ehrliche, weil handgemachte Musik wie den Boogie Woogie begeistern kann, der ist zeitlos und nicht abhängig von populären Strömungen.
Und es wird immer junge Menschen geben, die sich für die Dynamik des Boogie Woogie begeistern können, die unterschiedlichsten Formen zum Lernen am Klavier nutzen und somit diese wunderbare Musik in die Zukunft tragen.
Wichtig wäre, dass das Publikum, das heute zu Boogie Woogie Konzerten geht, seine Kinder und Enkelkinder “zwingt”, mit zu kommen. Nur so gelingt es, auch ganz junge Generationen mit der Musik in Berührung zu bringen. Der ein oder andere Enkel wird durchaus begeistert sein.
Wie sagte Axel Zwingenberger es einst so schön: „Der Boogie Woogie ist die wohl rhythmischste Musik, die je für das Klavier erfunden wurde“.
Quellen:
„A left hand like god“ – Buch von Peter Sylvester
„Jazz“ – Buch von Arrigo Pollilio
„On Record“ – Buch von John Hammond
„Cafe Society“ – Buch von Barney Josephson
„The Pete Johnson Story „ – Buch von Hans J. Mauerer
Gespräche und Interviews mit Axel Zwingenberger, Michael Hortig, Willie Dixon u.v.a.